Meine früheste Beziehung zu Rothenditmold stammt aus 1962. Damals bewarb ich mich als Schüler/Kollegiat beim Hessen-Kolleg, das auf dem Rothenberg kurz zuvor gegründet worden war. Ich bekam zwar eine Zulassung, habe dann aber die Aufnahme in Braunschweig zum dortigen Kolleg vorgezogen, weil ich in Braunschweig als Landeskind Niedersachsens eine finanzielle Unterstützung bekam, die ich in Hessen nicht bekommen hätte.
Kann man aus diesem persönlichen Beispiel etwas für unser Thema lernen? Wir werden sehen, ich komme darauf zurück.
Die Geschichte Rothenditmolds ist typisch für Stadtteile und Dörfer, die durch die Industrialisierung geprägt wurden, im Guten wie im Schwierigen. Aus dörflichen Gemeinschaften wurden in kürzester Zeit industrielle Zentren. Der Zuzug von Arbeitern und ihren Familien, der schnelle Aufbau von Fabriken, andererseits Wohnungs- und Hygieneprobleme, zum Teil bittere Armut, aber auch der Aufbau von sozialen und Bildungseinrichtungen, all das hat sich in einem rasenden, geradezu explosionsartigen Tempo vollzogen, häufig ungesteuert und wenn gesteuert, dann mit den Mitteln des Obrigkeitsstaates. 1866 wurde Kurhessen preußisch, die Residenzstadt Kassel wurde dann von preußischen Beamten regiert, auch Rothenditmold, das damals noch selbständig war.
Um die Dynamik an einer Zahlenreihe zu verdeutlichen, schauen wir auf die Einwohnerentwicklung. 1858 lebten im Dorf Rothenditmold 486 Menschen, 1900 schon 5.012 und 1939 19.000, heute etwas über 7.000 Menschen. Erst 1906 wurde Rothenditmold zu einem Stadtteil von Kassel. Allein diese Entwicklung zeigt, welche Veränderungen hier stattfanden und welche Veränderungsbereitschaft den schon früher hier Lebenden abverlangt wurde. Die sog. Gründerjahre waren Jahre radikaler Umwälzungen der Lebensverhältnisse vieler Menschen.
Vom Dorf zum Stadtteil! Das hört sich so gemütlich an. Aber es waren Bauernkinder, die nicht erben konnten, es waren Landarbeiter, die in die Fabriken strömten, es waren Zuwanderer. Und es waren vor allem Kinder der kinderreichen Familien, die durch die verbesserten hygienischen und medizinischen Rahmenbedingungen anders als in früheren Jahrhunderten überlebten.
Mein Vater etwa war das achte Kind in seiner Familie; sein Vater kam aus Westfalen von einem pleite gegangenen Bauernhof, war im Alter von 13 Jahren in eine Zigarrenfabrik als Hilfsarbeiter gegangen, um dann später in einem Thüringer Kleinstaat zum Militär zu gehen. Das war ein sozialer Aufstieg für ihn. Ich bin ganz sicher, dass viele Menschen Rothenditmolds vergleichbare Geschichten aus ihren Familien erzählen können.
Die skizzierten wirtschaftlichen, technischen und sozialen Verhältnisse kann man einer Stadt, einem Stadtteil ansehen. Natürlich haben sie die Stadtentwicklung bestimmt. Von den dörflichen Kernen der Industriestadtteile sind allenfalls noch Restbestände, manchmal wie in Waldau Restbauernhöfe zu sehen. Stadtbildprägend wurden Fabrikgebäude, die wir heute wieder als ästhetisch schön empfinden und Wohnviertel für die Arbeiterschaft; an anderer (besserer) Stelle, z. B. im Vorderen Westen, wurden für die Manager und leitenden Beamten die imposanten Jugendstilhäuser errichtet, die wir heute wieder bewundern. Die Neureichen wie die Henschels ahmten den Adel nach und bauten sich schlossartige Villen auf dem Weinberg.
Das gesellschaftliche Leben konnte unterschiedlicher nicht sein. Und die Kunst und Kultur nahm zunächst, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Notiz von den neuen Schichten der Arbeiterschaft und deren Problemen. Es bildeten sich eigene Arbeiter-Kulturen, die teilweise versuchten, die Bürgerlichen nachzuahmen, zum Teil aber auch eigenständige Kulturen entwickelten. Nicht zuletzt wurden eigenständige Gesellungs- und Kommunikationsformen entwickelt, Vereine, Gewerkschaften und eine eigene Arbeiterpartei mit ihren Kulturvereinen gegründet.
Die Entwicklung der industriellen Wirtschaft ist nicht stehen geblieben. Stichworte sind Computerisierung, Globalisierung, Finanzwirtschaft. Von den Familienbetrieben zu vielfach anonymen Großkonzernen usw. Sie kennen das aus der täglichen Berichterstattung.
Für Rothenditmold hat diese Entwicklung zu ganz und gar veränderten Verhältnissen geführt. Die Henschelei ist stillgelegt worden, viele andere Industriebetriebe wurden schon vorher geschlossen. Insofern steht Rothenditmold mit seiner Entwicklung für die Entwicklung der Stadt Kassel insgesamt. Spät industrialisiert, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts relativ schnell weitgehend entindustrialisiert.
Was hat das nun alles mit der Kunst oder sagen wir besser mit der Kultur zu tun?
Als wir 2005 in New York waren, konnten wir unmittelbar erleben, wie Kreative, also Künstler und verwandte Berufe, industriell geprägte Stadtviertel veränderten. Da waren erst Fabriken, dann gab es den Leerstand verbunden mit Niedergang und schließlich - nach einiger Zeit - suchten die Kreativen diese preiswerten Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten auf und setzten sich fest. Der Wert der Immobilien stieg auf Grund der neuen Aktivitäten, die Künstler konnten die Preise nicht mehr bezahlen und zogen in das nächste niedergegangene Stadtviertel. Es folgte die gleiche Entwicklung. Die Künstler und sonstigen Kreativen als die Trüffelschweine der Stadtentwicklung! Daraus haben manche eine neue Theorie entwickelt.
In Großbritannien, in Deutschland zuerst im Ruhrgebiet, wurde daraus eine Praxis der Strukturpolitik geschmiedet. In den niedergehenden Industrieregionen soll Kultur auf die Industrie folgen. Neue Arbeitsplätze sollen entstehen, die Kreativen entwickeln neue Produkte und Dienstleistungen und die Welt ist zufrieden!
Ist sie das, kann sie das sein? Die Gegenseite verweist auf sozial prekäre Verhältnisse, auf Niedrigeinkommen, ja teilweise auf Not.
Daher bleibt die Frage: Was kann Kunst, was kann Kultur in der Stadtentwicklung leisten?
Da kommt es zunächst einmal darauf an, was man unter kultureller Arbeit versteht. Damit will ich mich aus Zeitgründen nicht weiter beschäftigen, nur den Hinweis geben, dass für mich Kultur auch Bildung, Stadtbild, Gesellungsformen usw. sind, also ein Kulturbegriff in einem umfassenden Sinn anzuwenden ist.
Was kann Kultur also leisten? Ich zitiere einige Stichworte aus einem Bericht für die Stadt Bielefeld zu ihrem Stadtteilentwicklungsprojekt Sennestadt.
1. Kultur als Brücke zwischen den Generationen
2. Kultur als Vermittler für Stadtteilgeschichte
3. Kultur als Katalysator für Integration
4. Kultur als Brücke zwischen Stadtbezirk und Gesamtstadt
5. Stadtteilbezogene Freiräume für Kunst und Kreativität
6. Stadtteilkultur als Medium für Identifikation und Imagebildung
7. Stadtteile als Arbeitsort und Bühne für Kulturschaffende und Kreativwirtschaftler
8. Kultur als Standortfaktor
Kultur kann integrativ wirken für unterschiedliche Schichten, Generationen, Religionen, Ethnien.